Projekt Beschreibung

Wirth, Andrzej Tadeusz

(* 10. April 1927 in Włodawa/Polen)

Wirth stieß 1958 zur Gruppe 47, eingeladen von Hans Werner Richter, den er ein Jahr zuvor auf seiner Polenreise begleitete.

Der Theaterwissenschaftler promovierte über Brecht (1957) mit einer prästrukturalistischen Dissertation, die international in Fachkreisen Aufmerksamkeit erregte.

Wirth gilt als einer der bedeutendsten polnischen Theater- kritiker. Mitte der 1950-Jahre war er als Literaturredakteur der Wochenzeitschrift POLITYKA tätig, wo er die ersten zwei Kapitel von Günter Grass‘ BLECHTROMMEL veröffentlichte, noch bevor das Buch in Deutschland erschien. Er lud Grass nach Polen für Recherchen zu dem Roman nach Danzig ein; danach hat er mit Grass‘ Unterstützung den STROOP BERICHT über die Zerstörung des Warschauer Ghettos an den Luchterhand Verlag vermittelt. Das Buch erschien auch in New York mit Wirths Vorwort.

Wirth war Theaterkritiker und Herausgeber der avantgardistischen ‚Tauwetter‘-Zeitschrift NOWA KULTURA, die bald verboten wurde. Danach wurde er Dozent am Institut für Literaturforschung, wo er über den deutschen Expressionismus forschte.

Er übersetzte Lukrez und Horaz, für das Theater Brecht, Kafka, Dürrenmatt, Peter Weiss; einige Stücke von Brecht zusammen mit Marcel Reich-Ranicki, außerdem SCHWEYK IN ZWEITEN WELTKRIEG, das ihm Brecht für die Uraufführung in Warschau anvertraut hatte. Dazu Brechts MESSINGKAUF, die polnische Ausgabe durfte allerdings nicht den Namen des Übersetzers nennen.

Er nahm an dem Princeton-Treffen teil; angesichts der veränderten politischen Situation blieb er danach in den USA; aus einer literarischen Exkursion wurde ein 20jähriges Exil.

Wirth unterrichtete am Stanford University Drama Department und inszenierte dort amerikanische Erstaufführungen von Stanislaw Witkiewicz‘ Stücken. Außerdem Brechts FATZER und die UA von Philip Oxmans INTERMISSION (1972).

1970 wurde er Professor für Komparatistik und Theater am CUNY Graduate Center und Lehman College. Er inszenierte Brechts DIE MASSNAHME mit Tänzern; Die Inszenierung wurde vom Goethe House eingeladen.

Ab 1978 war er mehrmals Gastprofessor an der FU Berlin, der University of London und in Oxford. 1982 folgte er einem Ruf nach Gießen mit dem Mandat einer Institutsgründung. Er gründete das erste deutsche Institut für Angewandte Theaterwissenschaft (ATW).

Es handelte sich in seiner Gießener Lehre hauptsächlich um die Anwendung seiner praxeologischen Studien in Polen auf die Didaktik des Theaters und der Performance. Zusammen mit seinem Mitarbeiter Hans-Thies Lehmann prägte er den Begriff des postdramatischen Theaters, der auf das Schaffen fast aller seiner Studenten zutrifft.

Seine zweibändige Anthologie des MODERNEN POLNISCHEN THEATERS (1967) prägte die Rezeption polnischer Dramatik in der Bundesrepublik. Er ist Herausgeber deutscher Editionen von St. I. Witkiewicz, Bruno Schulz, Tadeusz Borowski, Slawomir Mrozek.

Wirth half, Witold Gombrowicz nach Europa zu bringen, zusammen mit dem befreundeten Walter Höllerer, der damals Berater der Ford Foundation war. Wirth verdankt den Verbindungen mit der Gruppe 47 die wichtigsten Impulse für seine Arbeit als Literaturwissenschaftler, Autor, Kritiker, Übersetzer und Theoretiker. 2013 erschien „Flucht nach vorn. Gesprochene Autobiografie und Materialien“, hrsg. von Thomas Irmer. Nach der polnischen Ausgabe (2014) ist die englische Edition in Vorbereitung.

Andrzej Wirth auf Wikipedia
© Jo Röttger 2017

Sie fanden mich am Jubiläumswochenende:

Samstag, 11.45 – 12.30, Fraunhofer Forschungscampus / Raum 5,
Lesung: Die letzte Dekade der Gruppe 47 – Erinnerungen an literarische Freundschaften
Sonntag, 12:00 – 14:00, Burg Waischenfeld, Filmgespräch zum Avantgardefilm „Theatre without audience“

Fotos: Stefan Dörfler

Veröffentlichungen