Die Gruppe 47 in der Pulvermühle bei Waischenfeld vor 50 Jahren

Der Zugang zur Pulvermühle über die hölzerne Brücke. Rechts das einstige GÄSTEHAUS, in dem die Lesungen stattfanden. Links das Gasthaus

Warum fand das Treffen ausgerechnet in der Pulvermühle statt?

Neue Antworten dazu kamen erst vor wenigen Jahren ans Tageslicht. Durch die Veröffentlichung von Hans Werner Richters Tagebüchern im Jahre 2012 beispielsweise. Er schreibt darüber: „Am Sonntag noch einmal Fahrt in die Fränkische Schweiz, zur Pulvermühle, die mir der Bruder von Klaus Roehler (Peter Roehler, die Red.) als Tagungsort vorgeschlagen hat“. Die Roehlers stammten aus Thüringen und betrieben dort eine Porzellanmanufaktur. 1947, in dem Jahr gründete sich die Gruppe 47, wurden die Roehlers von den Sowjets enteignet, weshalb sie in den Westen emigrierten. Walter Roehler, der Vater, betrieb in Forchheim eine kleine Spielwarenfabrik in der Reichbrunnstraße. Klaus Roehler studierte in Erlangen und debütierte 1955 als Schriftsteller in der Gruppe 47. Später war er einige Zeit persönlicher Lektor von Günter Grass und von Hans Werner Richter, der ihn für „hochbegabt“ hielt. Ursprünglich wollte Richter das Treffen in Streitberg abhalten, schreibt er, weil Victor von Scheffel den Ort „besungen hat“.

Er fand aber keine geeignete Lokalität, obwohl ihm der Gedanke: „Auf Neideck könnte ich (für eine Lesung) Walter Jens setzen und auf die Streitburg Martin Walser“, außerordentlich gut gefiel. Die beiden konnten sich offensichtlich nicht besonders gut leiden. Die Pulvermühle schien für Richter besser geeignet. „Dieser Gasthof ist so, wie wir ihn brauchen und das Wort Pulvermühle gibt zu zahlreichen Assoziationen Anlass“. Damit meinte er den Namen und die Lage des Gasthauses, abseits von städtischem Trubel. Richter ahnte, genährt durch einen Hinweis von Klaus Roehler, dass die Tagung für einen Protestmarsch linksgerichteter Erlanger Studenten missbraucht werden könnte, weshalb er die Brücke für Besucher sperren lassen wollte. Namhafte Schriftsteller, auch Teilnehmer der Tagung, erwarteten zudem, dass die Gruppe 47 in der Pulvermühle endgültig beerdigt „pulverisiert wird“. Dann hätte das Wort Pulvermühle eine ganz besondere Note bekommen, besonders im Hinblick darauf, dass der Tagungsort schon einmal, im Jahre 1806 „pulverisiert“ wurde. Aus dem Jahr 1806 stammt die Sage, wonach der damalige Besitzer einer Pulvermühle die Mühle, die getrennt vom Wohnhaus 100 Meter weiter nördlich stand, in die Luft sprengte, um den herannahenden Franzosen kein Schießpulver geben zu müssen. Zum Sprecher der Gruppe 47 machte sich damals Heinrich Böll, der in einer Fernsehsendung im Juli 1967 behauptete, „die Gruppe 47 sei passé“ und vermutlich deshalb als einer der wenigen, neben Hans Magnus Enzensberger und Ingeborg Bachmann, nicht zur Tagung ins Wiesenttal bei Waischenfeld kam.

Was geschah in diesen Tagen in der Pulvermühle?

Hans Werner Richter, der Gründer und Organisator des Literatentreffens seit 1947 – daher der Name der Gruppe 47 – reiste schon am Donnerstag Vormittag an. „Das Gelände vor der Pulvermühle sah merkwürdig aus“ berichtete er seinem Tagebuch. „Fünf Kamerateams hatten Posten bezogen und hinter dem Bach hatte eine Demonstration Aufstellung genommen: Ein Zug bärtiger (Männer, die Red.) mit Minirockmädchen“, hielt Richter im Tagebuch fest. Zwei der Erlanger Studenten sprachen mit ihm und forderten eine Diskussion mit der Schriftstellergruppe über eine Resolution gegen den Springerkonzern. Nachdem sie bei Richter kein Gehör fanden, zogen sie ab, kamen aber zwei Tage später wieder.

Geschlossene Veranstaltung – Mit Wachtmann an der Holzbrücke

Als Guntram Vesper am Donnerstagabend in der Pulvermühle ankam, bemerkte er: „Endlich (…) eine Bohlenbrücke führt nach rechts und ins wahrhaft Ungewisse, darauf ein breitschultriger Mann, in der Hand ein Schild: Gaststättenbetrieb geschlossen. Er will mich nicht passieren lassen, Soldat an der Wiesent“. Am Freitag ab 10 Uhr begann, nach einer Gedenkminute für den kurz vorher verstorbenen Walter Maria Guggenheimer, der Vorlesemarathon. 25 Schriftsteller durften je 20 Minuten lang aus ihren Werken einem fachkundigen Publikum vorlesen. Nach der Niederschrift von Vesper begann das Vorlesen mit „Nachwuchsschriftstellern, deren Namen bis dato eher unbekannt sind“ und „mit Dichterfrauen, Journalisten und Hunden“. Am Samstag dagegen sind „die Namen bekannter, die Texte farbiger, die Lesungen geschulter geworden“. Renate Rasp und der spätere Gewinner Jürgen Becker lesen aus ihren Werken. “Die Stimmung verbessert sich“ vermerkt Vesper. Erste „Störer“ der Erlanger Studenten treten am Samstagnachmittag auf. Einer davon, so schreibt Vesper „ist ein Fremder. Einer der nicht dazu gehört, jung, dick (..) geht durch den Saal, um den Hals ein Schild: hier tagt die Familie Saubermann“. Er wird nach draußen geleitet und einige Schriftsteller folgen, stellen sich der Diskussion mit Studenten, die sich im Hof der Gaststätte mit Transparenten aufstellen. Reinhard Lettau gibt bekannt, dass die Gruppe am Abend vorher eine eigene Resolution verabschiedet habe, in der Axel Springers Pressekonzentration verurteilt wird als „Einschränkung und Verletzung der Meinungsfreiheit“. Damit nehmen sie den Studenten Luft aus den Segeln, sie fordern ähnliches. Während die Tagungsteilnehmer auf der Terrasse des Gästehauses Kaffee und Kuchen genießen, verbrennen Studenten vor ihren Augen stapelweise BILD-Zeitungen, bemerkt Gabriele Wohmann, die wie Vesper einen Bericht über die Tagung schrieb. Am Samstagabend war Festball im Festsaal des Gästehauses, zu den Klängen der Gruppe „Sonnys“ aus Forchheim.

Gästebuch der Pulvermühle 1967 im Fränkische Schweiz Museum Tüchersfeld, Einträge Gruppe 47

Die Stimmung war gelöst, berichtet der Lokalreporter, man freute sich mehrheitlich über die Resolution gegen die Springerpresse. „Gruppenchef“ Werner Richter eröffnete mit Frau Antonie den Festball mit einem Landler. Bald war die Tanzfläche gefüllt. Günter Grass zeigte mit Frau Anne „eine kesse Sohle“, während andere eher tanzunlustige Literaten bei Wein und Bier angeregte Gespräche führten. Waischenfelds damaliger Bürgermeister Hans Schweßinger durfte die Gäste begrüßen. Er bezeichnete sie als „Elitegruppe der deutschen Literatur“. Der Wirt Kaspar Bezold, ein politischer Freund und Gönner des Bürgermeisters, bemerkte befriedigt: „Die trinken aber gut“ und die Sonnys mussten „noch zu später Stunde unentwegt heiße Hits spielen“, wie die Lokalpresse anerkennend vermerkt.

Am Sonntag Vormittag ist Vesper, nach einer durchzechten Nacht, an der Reihe zu lesen. Er erinnert sich: „Ich lese. Fried lobt, Rühmkorf lobt, Höllerer lobt, Karsunke lobt. Grass meldet sich und findet schlecht, dass ich vorher wisse, was ich schreiben wolle“. Bald nach der Wahl Beckers zum Gewinner des Preises der Gruppe 47 begann die Aufbruchstimmung. Günter Grass bedankt sich für die guten Knödel und Wolf-Dietrich Schnurre lobt die guten Forellen – beides ist im Gästebuch der Pulvermühle nachzulesen. „Richter lobte das Niveau des Treffens, Mitfahrer suchten Selbstfahrer, zum letzten Mal über die Wiesent“ erinnert sich Gabriele Wohmann an die letzten Stunden. Guntram Vesper setzt der Pulvermühle in seiner Geschichte „Eingeladen, meiner Hinrichtung beizuwohnen“, aus der die Tagebuchaufzeichnungen stammen, ein literarisches Denkmal. Carl Amery widmet der Tagung ein eigenes satirisches Gedicht, das „Pulvermühlen-Komplott von 1967“. Und Günter Eich, der noch eine Woche länger blieb und mit dem „Pulvermüller“ Schach spielte, ergänzte das allgemeine Lob mit seinem Gästebucheintrag: „Die Pulvermühle hat nur einen Nachteil: dass man sie nicht mitnehmen kann“.

Die Tagung der Gruppe 47 in der Pulvermühle stand unter einem ungünstigen Stern.

Politisch motivierte studentische Unruhen mit Demonstrationen gegen den Schah-Besuch erschütterten Deutschland, Israel befand sich im 6-Tage-Krieg und namhafte Schriftsteller wie Heinrich Böll und Peter Handke distanzierten sich von der Gruppe 47. Daher erwarteten die deutsche Presse und auch mancher Teilnehmer der Versammlung die Auflösung derselben in der Pulvermühle. Der SPIEGEL schrieb in seinem Bericht vom 16. Oktober 1967: „Routine, Altersabnutzung und massierte Kritik am Gruppenstatus hatten, wenn nicht die Kritiker und Verleger, so doch vor allem die Literaten immer trennungswilliger gemacht“ und so die Auflösung befördert. Hellmuth Karasek erinnert sich am 10. Juni 2007 in der „Welt“: „Eigentlich konnte man das Ende (der Gruppe 47, die Red.) schon vorher beobachten. Hans Werner Richter, (..) hatte bei den Tagungen immer unruhige Augen, die misstrauisch hin- und herscharwenzelten. Einen Tag vor der Pulvermühle waren er und ich in München beim Bayrischen Rundfunk zu einer für die Gruppe werbenden Diskussion geladen. Auf dem Weg über den Hof trafen wir zufällig Peter Handtke. Richter lud ihn hastig, herzlich, mündlich nach Oberfranken ein. Handke lehnte grob und ohne Umschweife ab. Wir trafen Franz Xaver Kroetz, der damals als Dramatiker mit Saft und Kraft in der Blüte seines Ansehens stand und den ich als Theaterkritiker kannte. Richter sagte überfallartig zu Kroetz, er solle doch zum Wochenende in die „Pulvermühle“ kommen. Dort etwas lesen. Kroetz aber sagte: „Ja, mei. Ich will mal sehen, ob ich Lust und Zeit habe“ (Pause). „Aber ich fürchte, ich habe keine Zeit.“ Da bimmelte in meinen Ohren das Sterbeglöckchen der Gruppe.

Das langsame Sterben der Gruppe 47

Es begann eigentlich schon 1966 im amerikanischen Princeton, wie einige Beobachter der Szene meinten. Der junge Peter Handke nannte dort ihre Literatur „fürchterlich konventionell“ und: „man könne diese läppische Prosa ebenso gut aus einem Lexikon abschreiben“. Heinz Ludwig Arnold sah ähnliche Gründe für die drohende Auflösung der Gruppe 47: „Eine neue Generation von Autoren drängte in die Gruppe, die von den Universitäten kam, firm in Theorie und im Umgang mit den neuesten ästhetischen Verfahren – eine neue Generation, die, wie Richter einmal geschrieben hat, begabter war als die alte, und intoleranter“. Die Öffnung der Gruppe 47 „für diese Generation war unumgänglich, wenn die Gruppe weiter bestehen sollte – und doch war sie auch ein Grund für ihr Ende“. Joachim Kaiser ergänzte: „Zum Ende der Gruppe 47 führte hauptsächlich der Umstand, dass sie zu alt wurde. Die Gruppe bestand nun also aus erstens relativ erfolgreichen, zweitens relativ alten Leuten“. Yaak Karsunke erinnert sich ebenfalls noch genau an damals: Er sei „sehr erschrocken gewesen, mit welcher Aggressivität ein Großteil der Gruppenmitglieder auf diesen harmlosen Studentenulk (in der Pulvermühle, die Red.) reagiert habe“. Er folgert daraus, „dass die Gruppe 47 nicht in der Lage war, sich mit den Studenten auseinander zu setzen“. Weshalb er den Schluss zieht: „Für meine Begriffe ist die Gruppe 47 aber nicht am Eindringen der Außenwelt zerbrochen, sondern an der Unfähigkeit der Gruppe, darauf angemessen zu reagieren“.

Viele der damals bei der Tagung anwesenden Literaten sind mittlerweile verstorben, darunter illustre Personen wie Günter Grass, Siegfried Lenz und Marcel Reich-Ranicki. Andere „Promis“ lebten 2017 noch, wie Martin Walser, der 90 Jahre alt wurde, oder Guntram Vesper, der für sein Werk „Frohburg“ gerade den Preis der Leipziger Buchmesse bekommen hatte. Oder Friedrich Christian Delius, der 2011 mit dem Georg Büchner-Preis, dem bedeutendsten Literaturpreis im deutschen Sprachraum, ausgezeichnet wurde.

Der Versuch, 1968 nach klassischem Muster in Prag zu tagen, wurde vom Einmarsch der Roten Armee zunichte gemacht. 1972, 1977 und 1990 gab es dann weitere Treffen, die aber meist nur der Erinnerung dienten. Danach lud Richter nicht mehr ein. „Der Verein, der keiner war“ (Original-Satz Hans Werner Richter) hörte damit endgültig auf zu existieren. Marcel Reich-Ranicki brachte es im SPIEGEL-Interview auf den Punkt: „Sicher ist: Solange man sich für die deutsche Literatur nach 1945 interessieren wird, so lange wird man die Gruppe 47 nennen und ihres Gründers Hans Werner Richter gedenken“. Auf die Frage des SPIEGEL (Interview in Nummer 36, 1997) was bleibt, antwortete Reich-Ranicki: „Nur manche der dort vorgelesenen Arbeiten bleiben. Sie alle wären gewiss auch ohne diese Probebühne entstanden, die Literaturgeschichte wäre also nicht anders verlaufen. Nur hätten manche Autoren um ihre Anerkennung viel länger kämpfen müssen“.

Text: Reinhard Löwisch
Literatur zur Gruppe 47, aus denen zitiert wurde:
Neunzig, Hans A.: Lesebuch der Gruppe 47, dtv,1983
Heinz Ludwig Arnold: Die Gruppe 47, rororo, 2004
Toni Richter: Die Gruppe 47, Kiepenheuer&Witsch, 1997
Hans Werner Richter: Die Tagebücher 1966-72, C.H.Beck, 2012
Ders. Die Gruppe 47, Luchterhand, 1967
Sprache im technischen Zeitalter, Nr. 166/1988
Gerd Rückel: Wie die Pulvermühle 1967 Literaturgeschichte machte. In: Von einem Paradies durch das andere, Landkreis Bayreuth 1997.

Eine umfangreiche Literaturliste finden Sie hier

Die umfangreiche Presseschau für 1967 finden Sie hier